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Vergesst nicht, meine Töchter und Söhne, dass die Demut eine so wichtige Tugend ist, dass, wenn sie fehlte, es keine andere gäbe. Ich wiederhole, im inneren Leben ist sie wie das Salz, das alle Speisen würzt. Auch wenn eine Handlung tugendhaft aussieht, wird sie nicht tugendhaft sein, wenn sie Folge des Stolzes, der Eitelkeit, der Dummheit ist; wenn wir sie verrichten, indem wir an uns selbst denken und uns wichtiger nehmen als den Dienst Gottes, das Wohl der Seelen, die Ehre des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Wenn sich die Aufmerksamkeit auf unser eigenes Ich richtet, wenn wir mit der Frage beschäftigt sind, ob man uns loben oder uns kritisieren wird, fügen wir uns großen Schaden zu. Nur Gott darf uns interessieren; und um seinetwillen alle, die wir dem Opus Dei angehören, und alle Seelen der Welt ohne Ausnahme. Also, weg mit dem Ich! Es stört.

Wenn ihr so handelt, meine Töchter und meine Söhne, wie viele Schwierigkeiten werden verschwinden! Wie viele schwere Stunden werdet ihr euch ersparen! Wenn es euch einmal schlecht geht und ihr merkt, dass eure Seele unruhig wird, dann heißt das, dass ihr um euch selbst kreist. Der Herr kam, um zu erlösen, um zu retten, und um nichts anderes hat Er sich gekümmert. Und wir wollen uns darum kümmern, den eigenen Stolz zu nähren?

Wenn du dich selbst zum Mittelpunkt machst, mein Kind, schlägst du nicht nur einen falschen Weg ein, sondern wirst außerdem das christliche Glück in diesem Leben verlieren, das Wohlbefinden und die Freude, die hier nie vollendet sein werden, weil nur im Himmel das Glück vollkommen sein wird.

Ich las in einem alten geistlichen Buch, dass Bäume mit sehr hohen und aufragenden Zweigen unfruchtbar sind. Bäume mit niedrigen, herabhängenden Zweigen hingegen sind voll fester Frucht mit saftigem Fruchtfleisch; und je näher sie dem Boden sind, desto mehr Früchte tragen sie. Kinder, bittet um die Demut, die eine so kostbare Tugend ist. Warum sind wir so dumm? Immer sind wir davon überzeugt, das Unsere sei das Beste; immer sind wir sicher, dass wir im Recht sind. Wie das Wasser ein Stück Zucker durchtränkt, so dringen Eitelkeit und Stolz in die Seele. Wenn ihr glücklich sein wollt, seid demütig. Weist die lügnerischen Einflüsterungen des Teufels zurück, wenn er euch weismachen will, dass ihr bewundernswert seid. Ihr und ich, wir haben begriffen, dass wir leider nur recht wenig wert sind. Aber wenn wir auf Gott, unseren Herrn, bauen, sieht es anders aus. Ihm verdanken wir alles. Erneuern wir unsere Dankbarkeit: ut in gratiarum semper actione maneamus!

Die Danksagung, meine Töchter und Söhne, kommt aus einem heiligen Stolz, der die Demut nicht zerstört und die Seele nicht mit Hochmut erfüllt, weil er sich nur auf die Macht Gottes stützt und aus Liebe besteht, aus Sicherheit im Kampf. Jetzt, da das Jahr beginnt und man die Vorsätze erneuert, in novitate vitae21, das Leben neu zu gestalten, können wir dem Herrn schon für alles danken, was kommen wird, für alles, und besonders für das, was uns weiterhin Schmerz bereiten wird.

Wie bearbeitet man den Stein, der in die Fassade des Gebäudes eingepasst werden soll, um den Bogen zu krönen? Er benötigt eine andere Behandlung als der, der für das Fundament verwendet wird. Man muss ihn gut behauen, mit vielen Meißelschlägen, bis er in Schönheit vollendet ist. Deshalb, Kinder, müssen wir Gott für alle persönlichen Widerwärtigkeiten, für alle Demütigungen danken, für alles, was die Leute schlecht nennen, obwohl es das in Wahrheit gar nicht ist. Für ein Kind Gottes wird es eine Prüfung der göttlichen Liebe sein, die uns vielleicht gut ins rechte Licht stellen will und uns mit sicheren und genauen Schlägen bearbeitet. Wir müssen mit Ihm mitarbeiten, zumindest keinen Widerstand leisten und Ihn gewähren lassen.

Daher kommt es, dass der größte Teil unserer geistlichen Arbeit darin besteht, unser Ich zu erniedrigen, damit der Herr mit seiner Gnade hinzufügt, was Er möchte. Solange die Zeit unseres Lebens währt, ob es nun lang oder kurz ist, werden wir uns nicht über Gott, unseren Vater, beklagen, auch wenn wir das Gefühl haben, gleichsam am Rande eines Abgrunds von Unreinheit, von Eitelkeit, von Torheit zu stehen. Deshalb bestehe ich so auf der persönlichen Demut. Es ist eine herrliche Tugend für die Söhne und Töchter Gottes im Opus Dei.

Wer demütig ist, weiß es nicht und hält sich für stolz. Und wer stolz, eingebildet und töricht ist, betrachtet sich als hervorragend. Das hat kaum eine Lösung, solange man nicht aus dem Leim geht und erlebt, wie man am Boden liegt; ja sogar dort kann man weiter großtun. Auch deswegen brauchen wir die geistliche Begleitung. Von weitem erkennen sie gut, was wir sind: höchstens Steine, die man unten verwenden kann, im Fundament; nicht wie der, der als Schlussstein des Bogens dient.

Anmerkungen
21

Röm 6, 4.

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