Leben zur Ehre Gottes

* Betrachtung für die Studenten des Römischen Kollegs vom Heiligen Kreuz am 21. November 1954.


»Emitte lucem tuam et veritatem tuam«1 – sende, Herr, Dein Licht und Deine Wahrheit.

Meine Kinder, Christus nachzufolgen ist unsere Berufung – »venite post me et faciam vos fieri piscatores hominum«2. Ihm so sehr aus der Nähe zu folgen, wie die ersten Zwölf; so sehr, dass wir mit Ihm einswerden, dass wir sein Leben führen, so dass, wenn wir keine Hindernisse aufgerichtet haben, der Augenblick kommt, da wir mit dem heiligen Paulus sagen können: »Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir«3.

Welch große Freude, ganz in Gott einzutauchen! Vergöttlicht zu werden! Und gleichzeitig welche Freude, die ganze Nichtigkeit, das ganze Elend, die ganze Schwäche unserer armen irdischen Natur zu spüren, mit ihren Mängeln, mit ihren Fehlern! So kommt es, dass wir, wenn Christus zu uns wie zu den Ersten in Gleichnissen spricht, Ihn oft nicht verstehen und uns die Bitte der Apostel zu eigen machen müssen: »edissere nobis parabolam!«4 – Herr, erkläre uns das Gleichnis.

Wenn du betest, mein Sohn – ich beziehe mich jetzt nicht auf dieses beständige Gebet, das den ganzen Tag über andauert, sondern auf die beiden festen Zeiten, die wir allein dem Umgang mit Gott widmen, abgeschirmt von allem Äußeren –, wenn du diese Betrachtung beginnst, dann versetze dich immer wieder in die Szene oder das Geheimnis, das du erwägen möchtest, was von vielen Umständen abhängig sein wird. Dann beginnst du, darüber nachzudenken und suchst alsbald ein Zwiegespräch mit dem Herrn, voll von Gefühlen der Liebe und des Schmerzes, des Dankes und dem Verlangen, besser zu werden. Auf diesem Weg sollst du zum Gebet der Ruhe finden, bei dem der Herr zu dir spricht, während du hinhörst auf das, was Gott dir sagen will. Wie deutlich spürt man dann diese inneren Anregungen und diese Hinweise, die die Glut der Seele entzünden.

Um das Gebet zu erleichtern, ist es angebracht, selbst das durch und durch Geistige zu materialisieren und zum Gleichnis Zuflucht zu nehmen; so hat Gott es uns gezeigt. Die Lehre muss über die Sinne in unseren Verstand und in unser Herz gelangen. Jetzt wird es dich also nicht wundern, dass ich so gern zu euch von der Weite des Meeres und von Booten spreche.

Meine Kinder, wir sind mit Christus in das Boot des Petrus gestiegen, in dieses Boot der Kirche, das so zerbrechlich und marode aussieht, aber von keinem Sturm zum Sinken gebracht werden kann. Und im Boot des Petrus müssen wir, du und ich, langsam, mit Bedacht darüber nachdenken: Herr, wozu bin ich in dieses Boot gestiegen?

Diese Frage betrifft dich besonders, seitdem du das Boot bestiegen hast, dieses Boot des Opus Dei, weil dir der Sinn danach stand – was ich für den übernatürlichsten aller Gründe halte. Ich liebe Dich, Herr, weil es mir passt. Dieses arme Herz hätte ich einem Geschöpf schenken können … aber nein! Ich lege es Dir ganz zu Füßen, jung, vibrierend, edel, rein, weil ich es eben so will!

Mit dem Herzen hast du Jesus auch deine Freiheit gegeben, und dein persönliches Ziel ist zweitrangig geworden. Du kannst dich frei in dem Boot bewegen, mit der Freiheit der Kinder Gottes5, die in der Wahrheit sind6 und den göttlichen Willen erfüllen7. Aber du darfst nicht vergessen, dass du immer innerhalb der Grenzen des Bootes bleiben musst. Und dies, weil es dir so gepasst hat. Ich wiederhole, was ich euch gestern oder vorgestern gesagt habe: Wenn du das Boot verlässt(a), wirst du in die Wogen des Meeres stürzen, wirst du den Tod finden, wirst du im Ozean untergehen und nicht weiter bei Christus sein, wirst du diese Gemeinschaft verlieren, die du freiwillig annahmst, als Er sie dir anbot.

Bedenke, mein Sohn, wie wohlgefällig dem Herrn der Weihrauch ist, der zu seiner Ehre verbrannt wird. Bedenke, wie wenig die Dinge der Erde wert sind, die kaum, dass sie begonnen haben, schon wieder zu Ende sind. Bedenke, dass wir Menschen, wir alle, nichts sind: »pulvis es, et in pulverem reverteris«8; wir werden wieder wie der Staub des Weges werden. Aber das Außerordentliche liegt darin, dass wir trotzdem nicht für die Erde leben und auch nicht für unsere Ehre, sondern für die Ehre Gottes, für den Ruhm Gottes, für den Dienst Gottes. Das ist es, was uns bewegt!

Wenn dir daher dein Stolz zuflüstert: Hier findest du keine Beachtung trotz deiner außergewöhnlichen Talente … hier wirst du nicht so viel Frucht bringen, wie du könntest … hier wirst du versauern, wirst du dich unnütz verbrauchen … Du, der du in das Boot des Werkes gestiegen bist, weil es dir so gepasst hat, weil dich Gott eindeutig gerufen hat – »niemand kann zu mir kommen, wenn ihn der Vater, der mich gesandt hat, nicht zieht«9 –, du musst dieser Gnade entsprechen, indem du dich verausgabst, indem du unsere freudige Überwindung, unsere Hingabe zu einem Opfer werden lässt, zu einem Brandopfer!

Mein Sohn, das Gleichnis hat dich schon davon überzeugt, dass du, wenn du Leben haben willst, ewiges Leben, wenn du die ewige Glückseligkeit, ewige Ehre haben willst, nicht vom Boot gehen darfst und oftmals dein persönliches Ziel beiseitelassen musst. Ich habe kein anderes als das gemeinschaftliche Ziel: Gehorsam.

Wie schön ist das: gehorchen! Aber fahren wir mit dem Gleichnis fort. Wir sind schon in diesem alten Boot, das seit zwanzig Jahrhunderten auf See ist ohne unterzugehen; in diesem Boot der Hingabe, des Dienstes an Gott. Und auf diesem ärmlichen Boot kommt dir der Gedanke, dass du ein Flugzeug besitzt, bei dem du dich genau auskennst, und du denkst: Wie weit kann ich damit kommen! Gut, dann geh und such dir einen Flugzeugträger, hier ist kein Bedarf für dein Flugzeug! Das muss dir ganz klar sein: Unsere Beharrlichkeit ist Frucht unserer Freiheit, unserer Hingabe, unserer Liebe, und sie fordert eine vollkommene Widmung. Auf dem Boot können wir nicht einfach tun, was uns in den Sinn kommt. Wenn man die ganze Ladung, die sich in seinem Rumpf befindet, an eine Stelle verlagert, dann sinkt das Boot; wenn alle Matrosen ihre konkrete Aufgabe unerfüllt lassen, dann geht das arme Schifflein zugrunde. Der Gehorsam ist notwendig; die Personen und die Dinge müssen an dem Ort sein, der ihnen zugewiesen wurde.

Mein Sohn, überzeuge dich ein für allemal, überzeuge dich, dass ein Verlassen des Bootes den Tod bedeutet. Und dass es, um auf dem Boot zu sein, notwendig ist, das Urteil zu unterwerfen. Eine tiefe Arbeit der Demut ist notwendig: sich hinzugeben, sich zu verbrennen, zum Brandopfer zu werden.

Und weiter. Die Ziele, die wir uns gemeinsam vornehmen, sind die Heiligkeit und das Apostolat. Um diese Ziele erreichen zu können, benötigen wir vor allem Bildung, für unsere Heiligkeit genauso wie für das Apostolat. Und für diese Bildung brauchen wir Zeit, den passenden Ort, die passenden Mittel. Erwarten wir keine außergewöhnlichen Erleuchtungen von Gott, die Er uns aus keinem Grund zu gewähren braucht; Er gibt uns menschliche Mittel an die Hand, die konkret sind und uns selber zum Handeln befähigen, wie das Studium und die Arbeit. Man muss sich bilden, man muss studieren. Auf diese Weise bereitet ihr euch auf eure Heiligkeit vor, für jetzt und für später, und auf das Apostolat, das die Menschen konkret in den Blick nimmt.

Habt ihr nicht gesehen, wie man den Sauerteig zubereitet, wie man ihn bei einer bestimmten Temperatur zunächst unter Verschluss hält, um ihn nachher der Masse beizumengen …? Ich zähle auf euch wie auf den stärksten Motor, um die Arbeit in der ganzen Welt voranzubringen. Keiner von euch ist unwirksam: Ihr alle seid sehr wirksam, allein dadurch, dass ihr die Normen erfüllt, dass ihr studiert, dass ihr arbeitet, dass ihr gehorcht.

Ich verstehe fast gar nichts von radioaktivem Material, und mein spärliches Wissen stammt nur aus den Zeitungen. Aber ich habe Fotos gesehen, und ich weiß, dass man dieses Material, wenn nötig, viele Meter unter die Erde schafft, mit schweren Bleiplatten abdeckt und mit dicken Betonmauern sichert. Und trotz allem entfaltet es seine radioaktive Wirkung. Man schafft es dahin und dorthin, setzt es bei Menschen zur Heilung von Tumoren ein und verwendet es für vieles andere. Es wirkt auf tausenderlei wunderbare Weisen und besitzt außergewöhnliche Wirksamkeit. Genauso effektiv seid auch ihr, meine Kinder, wenn ihr euch den Arbeiten innerhalb des Werkes widmet oder in den Bildungszentren des Werkes arbeitet. Ja, ihr seid noch wirksamer, denn ihr besitzt die Wirksamkeit Gottes, wenn ihr durch eure Hingabe vergöttlicht werdet wie Christus, der sich selbst entäußert hat.10 Auch wir entäußern uns und verlieren scheinbar die Freiheit, während wir in Wahrheit zur Fülle der Freiheit gelangen, zur Freiheit der Kinder Gottes.11

Bildung ist also nötig, um die entsprechenden Inhalte zu vermitteln. Bildung ist auch für eure persönliche Heiligkeit erforderlich; eine Bildung, die mit dem nötigen Zeitaufwand erworben wird, am passenden Ort und mit den geeigneten Mitteln – aber mit dem Blick auf die ganze Welt, auf alle Menschen, indem ihr an alle Seelen denkt. Und wenn Brüder von euch in neue Länder gehen, werden sie sich nicht allein fühlen, denn von hier aus, innerhalb dieser Mauern, die aus Stein zu sein scheinen und die doch aus Liebe sind, werdet ihr ihnen die ganze Wirksamkeit eurer Heiligkeit und eurer Hingabe zukommen lassen. Dadurch erreicht ihr, dass diese eure Brüder zutiefst eure Nähe spüren. Und dann wird der Moment kommen, wo es heißt: »ite, docete omnes gentes …«12, geht hin und lehrt alle Völker. Es ist das Apostolat der Lehre, das ihr durch euer Beispiel inmitten eurer beruflichen Arbeit vollbringt. Mit welcher Freude werde ich dann euch, wenn auch ihr aufbrecht, einige Worte mit auf den Weg geben …!

Kinder meiner Seele! Ihr wisst, dass der Vater die Freiheit sehr liebt. Ich möchte niemanden zwingen, und ich bin dagegen, dass man jemanden zwingt. Kein Mensch darf einem anderen die Freiheit nehmen, die Gott uns als Gabe geschenkt hat. Und wenn das so ist, dann überlegt, ob ich euch je zwingen werde … Im Gegenteil! Ich bin der Verteidiger der Freiheit eines jeden von euch, die ihr innerhalb des Bootes seid … innerhalb des Bootes und ohne Flugzeug.

Aber die Zeit des Gebetes läuft uns davon, und ich möchte euch noch vieles anderes sagen.

Unser Opus Dei ist in höchstem Maß laikal, aber Priester sind notwendig. Obwohl ich das Priestertum so liebe, wie ich es liebe, habe ich bis vor kurzem immer gelitten, wenn einer eurer Brüder geweiht wurde. Jetzt geschieht das Gegenteil, jetzt macht mich das sehr glücklich. Aber es muss ohne Zwang geschehen, mit absoluter Freiheit. Gott missfällt es nicht, wenn einer meiner Söhne nicht Priester werden möchte. Außerdem brauchen wir viele heilige und gelehrte Laien. Diejenigen, die zum Priestertum berufen werden, haben also bis zum Tag, ja bis zum Augenblick der Weihe vollständige Freiheit. Wenn einer sagt: Vater, nein, ich möchte nicht Priester werden, ist das sehr gut. Ich sage dann: Mein Sohn, Gott segne dich, du enttäuschst mich nicht.

Trotzdem brauchen wir viele Priester, die ihren Schwestern und Brüdern und diesen großartigen Berufungen, die die Diözesanpriester sind, wie Knechte voll Freude dienen. Wir brauchen sie für die Arbeit vom heiligen Rafael und vom heiligen Gabriel, um allen Mitgliedern des Werkes die Sakramente spenden zu können und um den vielen Mitarbeitern zu helfen, die, wenn wir sie bilden, wie es sein soll, sehr wirksam sein werden. Ohne Priester ist das nicht möglich.

Das Werk breitet sich auf wunderbare Weise über die Welt aus. Herr, ich bin beschämt! Nicht leicht findet man jemanden, man erinnert sich nicht an einen Fall, wo jene, die eines Deiner Werke begonnen haben, hier auf Erden so viel Wunderbares sehen durften, wie ich es sehen darf: an Ausdehnung, an Zahl, an Qualität.

Wir brauchen Priester für die Suche nach Berufungen. Denn obwohl die meiste Arbeit von den Laien geleistet wird, stößt man an die sakramentale Mauer. Wenn man sich da an Kleriker wenden müsste, die nicht unseren Geist haben, dann würde die ganze Arbeit behindert werden, weil die einen es nicht können und andere nicht wollen.

Wir brauchen Priester auch für die Leitung des Werkes: wenige, weil die Ämter in den Häusern des Werkes sowie zwei Drittel der Ämter des Generalrates und der Regionalkommissionen von meinen Kindern, die Laien sind, bekleidet werden. Die restlichen werden Priester sein, die viel arbeiten und das Wie und Wo unserer Arbeit auf der ganzen Welt kennen. Es wird der Augenblick kommen, da eure Brüder, die an vielen Orten mit der apostolischen Arbeit des Werkes beginnen, wieder in ihre Länder zurückkehren und dort bei der Leitung mitarbeiten werden. Durch ihre persönliche Heiligkeit und ihre Erfahrung werden sie die Leitung mit viel Geschick unterstützen.

Wir brauchen Priester als Werkzeuge der Einheit. Der Priester muss also ganz besonders darauf achten, dass er keine Grüppchen bildet …! Man muss sich von den Seelen lösen! Ich hatte niemand, der mich das hätte lehren können – ich hatte keinen Vater(b) wie ihr –, es war der Herr, der mich anwies, das Persönliche immer zu vermeiden, noch bevor ich wusste, was Gott von mir wollte. Manchmal riet ich den Leuten, die zu meinem Beichtstuhl kamen: Geh zu einem anderen Priester; heute höre ich deine Beichte nicht. Ich tat das, damit sie sich frei fühlen, damit sie nicht an mir kleben, damit nicht die Anhänglichkeit an ein Geschöpf das Motiv für den Empfang des Sakramentes sei, sondern es aus göttlichen, aus übernatürlichen Motiven geschieht – aus Liebe zu Gott.

Mein Kind, denke niemals an dich. Fliehe vor dem Hochmut dessen, der sich wichtignimmt. Wenn du nicht an dich denkst, dann leistest du gute Arbeit. Wir dürfen nicht meinen, wir seien der Mittelpunkt, so dass sich alles um uns drehen müsste. Das Schlimmste daran ist nämlich, dass du, falls du diesen Fehler begehst, es nicht glauben wirst, wenn man dir sagt, dass du hochmütig bist. Denn während der Demütige sich für hochmütig hält, hält sich der Hochmütige für demütig.

Ich schaue euch an, meine Kinder … Wie froh wirst du sein, wenn der Augenblick für dich kommt, deinen Brüdern zu erklären, dass die Kinder Gottes in seinem Opus Dei beschaulich sein müssen, beschauliche Seelen mitten in der Welt! Ihr müsst ein beständiges Gebetsleben pflegen, vom Morgen bis zum Abend, und vom Abend bis zum Morgen. Vom Abend bis zum Morgen, Vater? Ja, mein Sohn, auch im Schlaf.

Du bewunderst genauso wie ich das schweigsame Leben jener Männer, die sich in ein altes Kloster einschließen, verborgen in ihren Zellen leben und ein Leben der Arbeit und des Gebetes führen. Wenn ich zuweilen die Kartäuser besuche, gehe ich erbaut von dort wieder fort, und ich liebe sie sehr. Ich verstehe ihre Berufung, ihre Absonderung von der Welt, und ich freue mich für sie … aber dort drinnen empfinde ich tiefe Traurigkeit. Wenn ich wieder auf der Straße bin, dann sage ich mir: Meine Zelle! Das ist meine Zelle! Unser Leben ist so beschaulich wie das ihre. Gott gibt uns die Mittel, damit unsere Zelle – unsere Einkehr – mitten in den Dingen der Welt ist, im Inneren unseres Herzens. Und so verbringen wir den Tag in einem ununterbrochenen Dialog mit Gott auf der Basis unserer Bildung, die wir im Werk erhalten.

Christus, Maria, die Kirche: das ist die dreifache Liebe, die dein Leben erfüllen soll. Maria, deine Mutter – fast hättest du »Mama« gesagt; das macht nichts, nenne sie ruhig so –, mit dem heiligen Josef und deinem Schutzengel.

Du wirst deine Brüder lehren, dass sie beschaulich und gelassen sein müssen. Auch wenn alles einstürzt, auch wenn alles untergeht, auch wenn alles Sprünge bekommt … Wir nicht. Wenn wir treu sind, werden wir die Stärke dessen haben, der demütig ist, weil er mit Christus einsgeworden ist. Meine Kinder, wir sind das Bleibende; alles andere vergeht. Es passiert nichts!

Vater, und wenn man mich niederschießt? Das wäre eine heilige Sache. Das ist nicht unser Weg, aber wir würden die Gnade des Martyriums wie eine Liebkosung Gottes annehmen – eine Liebkosung nicht für uns, sondern für unsere Familie, das Opus Dei –, damit uns nicht einmal in diesem Punkt der Hochmut überwältigt. Diese Liebkosung wird nicht ausbleiben … aber sie wird selten sein, denn sie ist nicht unser Weg.

Seid gelassen! Bemühen wir uns, dass es uns nicht an Verantwortungsbewusstsein fehlt. Denken wir daran, dass wir Glieder derselben Kette sind. Deshalb möchte ich – so müssen wir, jedes der Kinder Gottes in seinem Werk, aufrichtig sagen –, dass dieses Kettenglied, das ich bin, nicht zerreißt. Denn wenn ich zerbreche, übe ich Verrat an Gott, an der Heiligen Kirche und an meinen Brüdern. Und wir werden über die Festigkeit der anderen Glieder glücklich sein; ich werde mich darüber freuen, dass es solche aus Gold, aus Silber und aus Platin gibt, mit kostbaren Steinen verziert. Und wenn es so aussieht, als würde ich zerbrechen, weil mich die Leidenschaften verwirrt haben; wenn es den Anschein hat, ein Glied würde zerreißen – dann bleibt ruhig! Man hilft ihm, damit er mit mehr Liebe, mit mehr Reue, mit mehr Demut vorankommt.

Du wirst deinen Brüdern sagen, dass sie beschaulich und gelassen sein sollen, voll Verantwortungssinn im gewöhnlichen Leben, denn unser Heroismus liegt im Kleinen. Wir suchen die Heiligkeit in der gewöhnlichen, täglichen Arbeit.

Du wirst ihnen auch sagen, dass sie lieben sollen, mit herzlicher Zuneigung. »Deus caritas est!«13, der Herr ist Liebe. Zuneigung zu euren Brüdern, ganz besonders aber zu euren Leitern, indem ihr auch ihnen durch die brüderliche Zurechtweisung helft. Ihr habt alle Mittel, um die Wahrheit zu sagen, ohne zu verletzen, so dass sie übernatürlich wirksam ist. Man fragt den Leiter des Hauses: Soll ich diese brüderliche Zurechtweisung machen? Vielleicht antwortet er, dass es nicht angebracht ist, weil es sich um etwas handelt, das objektiv gesehen kein Grund für eine Zurechtweisung ist, weil ihm das schon ein anderer gesagt hat, weil kein ausreichendes Motiv dafür vorhanden ist oder aus sonst einem Grund. Wenn man dir aber mit Ja antwortet, erteilst du die brüderliche Zurechtweisung umgehend, von Angesicht zu Angesicht, denn im Werk ist für üblen Klatsch kein Raum, darf es keinen Klatsch geben, nicht einmal indirekt. Der indirekte Klatsch ist typisch für Leute, die Angst haben, die Wahrheit zu sagen.

Es gibt ein Sprichwort, das lautet: Wer die Wahrheit sagt, verliert seine Freunde. Im Opus Dei verhält es sich genau umgekehrt. Bei uns sagt man die Wahrheit, aus Liebe, unter vier Augen, ganz offen; und alle fühlen wir uns glücklich und sicher, denn man hält uns den Rücken frei. Duldet niemals auch nur den geringsten Klatsch, und noch weniger, wenn er sich gegen einen Leiter richtet.

Meine Kinder, liebt alle Menschen. Das Opus Dei richtet sich gegen niemanden und gegen nichts. Wir können nicht Arm in Arm mit dem Irrtum vorangehen, denn das könnte Anlass dafür sein, dass man sich auf uns beruft und ihn verbreitet. Aber was die Personen anlangt, die im Irrtum sind, so gilt es, mittels der Freundschaft zu versuchen, sie aus ihm zu befreien. Man muss mit ihnen herzlich und mit Freude umgehen.

»Iterum dico: gaudete!«14 Seid immer froh, meine Kinder. Ich habe in diesem Gebäude an vielen Stellen Worte der Heiligen Schrift anbringen lassen, die uns helfen, froh zu sein. »Servite Domino in laetitia«15; dient dem Herrn mit Freude. Glaubt ihr, dass man im Leben für einen Dienst dankbar ist, der widerwillig geleistet wird? Nein. Es wäre besser, er würde gar nicht erbracht. Und da sollen wir dem Herrn mit finsterem Gesicht dienen? Nein. Wir werden Ihm mit Freude dienen, trotz unserer Erbärmlichkeiten, die wir mit der Gnade Gottes schon ausräumen werden.

Seid gehorsam. Um zu gehorchen, muss man auf das achtgeben, was man uns sagt. Wenn du wüsstest, wie weh es tut, wenn man guten Seelen, die nicht zu gehorchen verstehen, etwas befehlen muss! Vielleicht handelt es sich um einen guten, sehr heiligen Menschen; aber dann kommt der Augenblick des Gehorsams, und er sagt nein! Warum? Weil es manchmal Leute gibt, die das fast physische Defizit haben, nicht genau hinzuhören. Sie sind so gutwillig, dass sie beim Zuhören schon überlegen, wie sie es anders machen können, wie sie ungehorsam sein werden. Nein, man nennt zwar die Einwände, die man hat, wenn es sie gibt, und drückt sich klar aus, dann aber gehorcht man. Und man ist bereit, die unserem Ratschlag entgegengesetzte Lösung willig anzunehmen.

Gehorsam und objektiv sein. Wie werdet ihr informieren können, wenn ihr nicht objektiv seid? Ihr seid keine einfachen Soldaten, sondern Hauptleute des Heeres Christi und müsst daher eure Leiter objektiv darüber informieren, was euch betrifft. Wisst ihr, wie es einem General ergeht, der dreißig, fünfzig, hundert falsche Informationen erhält? Er verliert die Schlacht. Christus verliert keine Schlachten, aber durch falsche Informationen wird die Wirksamkeit unserer Arbeit verringert, und die Arbeit zeitigt nicht den Erfolg, den sie erbringen müsste.

Meine Kinder, nun dauert unsere Betrachtung schon fast vierzig Minuten. Ich überspringe nicht gern – wir sprechen ja gerade von militärischen Dingen – die Brustwehr der dreißig und nie die der vierzig Minuten. Ihr habt gesehen, dass ihr vieles zu lernen und zu leben habt, um es euren Brüdern beizubringen. Erweckt in euch große Wünsche nach Bildung. Und wenn ihr keine Wünsche habt, so rate ich euch, Wünsche nach Wünschen zu haben. Das ist schon etwas … Wünsche nach Hingabe, nach guter Ausbildung, nach Heiligkeit, nach großer Wirksamkeit: jetzt, später und immer.

Anmerkungen
1

Ps 42, 3.

2

Mt 4, 19: Folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen.

3

Gal 2, 20.

4

Mt 13, 36.

Verzeichnis der Schriftstellen
Anmerkungen
5

Vgl. Röm 8, 21.

6

Vgl. Joh 8,32.

7

Vgl. Mt 7, 21.

(a)

(a) In diesen Abschnitten verwendet der heilige Josemaría das Bild vom Boot und meint damit zweierlei: die Kirche und das Opus Dei. Die Kirche zu verlassen, bedeutet, sich in große Gefahr zu begeben, sein ewiges Heil aufs Spiel zu setzen, während das nicht der Fall ist, falls man das Opus Dei verlassen sollte, es sei denn, man verlässt gleichzeitig auch die Kirche oder missachtet bewusst den Willen Gottes, den man als solchen für sich erkannt hat. In beiden Fällen gibt es die Möglichkeit, immer wieder zurückzufinden und bei Christus zu sein.

8

Feria IV Cinerum, Ant.

9

Joh 6, 44.

Verzeichnis der Schriftstellen
Anmerkungen
10

Vgl. Phil 2, 7.

11

Vgl. Röm 8, 21.

12

Mt 28, 19.

Verzeichnis der Schriftstellen
Anmerkungen
(b)

(b) Im Opus Dei wird der Prälat – in der Zeit vor der Errichtung des Opus Dei als Personalprälatur der Generalpräsident – familiär Vater genannt.

Anmerkungen
13

1 Joh 4, 8.

14

Phil 4, 4.

15

Ps 99, 2.

Verzeichnis der Schriftstellen
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