Ohne Unterlass beten

 Am Heiligabend 1967 kam der heilige Josemaría mit den Studenten des Römischen Kollegs vom Heiligen Kreuz zusammen. Nachfolgend seine Worte, die er bei dieser Gelegenheit sprach.


Wie wollen wir heute Heiligabend verbringen, den Abend, an dem Weihnachten gefeiert wird? An erster Stelle werden wir einfach beten, was uns wunderbar leichtfällt, weil wir uns als Kinder Gottes wissen, als von Gott über alles geliebte Kinder.

Der heilige Paulus wendet sich mit folgenden Worten an die Korinther: »Si qua ergo in Christo nova creatura, vetera transierunt: ecce facta sunt omnia nova. Omnia autem ex Deo, qui nos reconciliavit sibi per Christum«1. Wenn also jemand in Christus ist, dann ist aller Schmutz weggewaschen, alles Alte, alles, was befleckt, alles, was einen hat leiden lassen. Von nun an beginnt tatsächlich ein neues Leben. Das haben wir Ihm häufig gesagt. Es mag zwar scheinen, dass davon bloß der Wunsch übriggeblieben ist. Dennoch sind wir immer ein Stück vorangekommen. Und in dieser Heiligen Nacht wird uns der Herr durch seine Mutter viele neue Gnaden schenken, damit wir in der Liebe und Gotteskindschaft wachsen.

Wir wollen den Herrn darum bitten, uns zu helfen, damit wir zu unterscheiden lernen zwischen dem, was seiner Verherrlichung dient, und dem, was Ihn beleidigt. Er mag uns auch zu erkennen helfen, was für uns Menschen gut und was schlecht ist, was uns glücklich macht und was uns das Glück raubt, das ewige und dasjenige, das wir hier auf Erden erreichen können.

Im Zusammenhang mit der Gotteskindschaft schreibt Paulus den Galatern etwas sehr Schönes: »Misit Deus Filium suum … ut adoptionem filiorum reciperemus«2. Gott sandte seinen Sohn und ließ Ihn unser Fleisch annehmen, damit wir seine Sohnschaft erlangen. Schaut, meine Kinder, welche Dankbarkeit wir gegenüber diesem unserem Bruder haben müssen, der uns zu Kindern Gottes machte. Habt ihr eure kleinen Geschwister gesehen, die kleinen Kinder in eurer Verwandtschaft, die nichts aus sich vermögen, sondern bei allem und jedem ständig Hilfe brauchen? Das trifft genauso auch auf Jesus als Kind zu. Es ist gut, Ihn so zu sehen, als wehrloses Kind. Obwohl Er der Allmächtige ist, Gott, hat Er sich zu einem hilfsbedürftigen Kind gemacht, das schutzlos ist und unsere Liebe braucht.

Aber in dieser kalten Einsamkeit, die Er zusammen mit Maria und Josef durchlebt, ist es unser Herz, das Jesus Wärme schenkt. Deshalb reiß alles aus deinem Herzen heraus, was stört! Du und ich, mein Kind, lass uns alles, was in unserem Herzen störend ist, aufspüren und ausreißen … aber wirklich! So sagt es Johannes im ersten Kapitel seines Evangeliums: »Quotquot autem receperunt eum dedit eis potestatem filios Dei fieri«3. Er hat uns die Macht gegeben, Kinder Gottes zu sein. Gott hat gewollt, dass wir seine Kinder sind. Ich erfinde nichts, wenn ich euch sage, dass die Gotteskindschaft ein wesentlicher Kern unseres Geistes ist: Alles ist in den Evangelien enthalten. Es stimmt, dass Gott an einem bestimmten Tag in der Geschichte des Werkes wollte, dass wir uns als seine Kinder fühlen, dass der Geist der Gotteskindschaft in den Geist des Werkes fest integriert wird. Davon werdet ihr zu seiner Zeit erfahren. Gott hat gewollt – erstmals in der Kirchengeschichte –, dass das Opus Dei die Gotteskindschaft gemeinschaftlich lebt.

Beten wir daher als Kinder und das beständig. »Oro coram te, hodie, nocte et die«4. Ich bete Tag und Nacht vor dir. Habt ihr mich nicht so oft sagen hören, dass wir beschaulich sein sollen, Tag und Nacht, auch wenn wir schlafen; dass auch der Schlaf Teil des Gebetes ist? So sagt es der Herr: »Oportet semper orare, et non deficere«5. Immer gilt es zu beten. Wir müssen die Notwendigkeit verspüren, uns an den Herrn zu wenden, nach jedem Erfolg und nach jedem Misserfolg im inneren Leben. Besonders in den letztgenannten Situationen kommen wir zum Herrn und sagen Ihm voller Demut: trotz allem bin ich Dein Kind. So spielen wir die Rolle des verlorenen Sohnes.

An anderer Stelle sagt die Heilige Schrift: »Wenn ihr betet, sollt ihr nicht plappern wie die Heiden, die meinen, sie werden nur erhört, wenn sie viele Worte machen.«6 Und wo beten wir? »In angulis platearum …«7 Wenn wir durch die Straßen gehen und über die Plätze, müssen wir dies betend tun. Das ist der Geist des Werkes.

Und warum sollen wir immer beten? Die Antwort darauf gibt uns der Herr aus dem Munde des Propheten Jeremias: »Orabitis me, et ego exaudiam vos.«8 Immer, wenn ihr euch an mich wendet, immer wenn ihr betet, höre ich euch. »Exaudi, Domine, vocem meam«9. Ich werde euch aufmerksam zuhören. Jesus Christus selbst, der unser Vorbild ist, ruft zum Vater. Seht ihr, wie Er, der eins mit dem Vater ist – es ist unmöglich, Ihn vom Vater und vom Heiligen Geist zu trennen –, vor jeder Wunderheilung sein Herz im Gebet zum Vater erhebt? Und als Er sich daran macht, die Zwölf auszuwählen, verbrachte Er die ganze Nacht im Gebet, »pernoctans in oratione«10.

Daher müssen wir beten und zwar immer. Dies ist unser Vorsatz heute Abend. Und wie beten wir? Indem wir danksagen. Lasst uns Gott Vater danken und Gott Sohn, der wegen unserer Sünden ein Kind wurde, sich entäußerte, in Bethlehem und am Kreuz litt, Letzteres mit offenen, ausgebreiteten Armen in der Geste des Ewigen Hohenpriesters. Ich mag keine Christusdarstellungen, bei denen Er gekrümmt, sich am Kreuz aufbäumend, voller Ingrimm ist. Das stimmt nicht! Er litt für unsere Sünden als Mensch und so empfand Er auch all die Schmerzen, die Ihm zugefügt wurden: die Geißelhiebe, die Dornenkrönung, die Ohrfeigen, die Verspottung … Aber Er hängt am Kreuz mit der Würde des Ewigen Hohenpriesters, ohne Vater, ohne Mutter, ohne Stammbaum. Dort gibt Er sich hin und leidet aus Liebe. Ich danke Ihm dafür, denn durch Ihn, mit Ihm und in Ihm darf ich mich Kind Gottes nennen. Das ist ein weiterer Punkt, den es zu bedenken gilt: Dankzusagen, trotz unserer Erbärmlichkeit und unserer Sünden.

Außerdem gilt es zu bitten. Und worum sollen wir bitten? Was erbittet ein Kind von seinem Vater? Den Mond und weitere absurde Dinge! »Bittet und es wird euch gegeben (…); klopft an und es wird euch geöffnet.«11 Was könnten wir nicht von Gott erbitten? Unsere Eltern haben wir um alles gebeten. Bittet um den Mond und er wird euch gegeben; bittet ohne Angst um alles, was ihr wollt. Er wird es euch immer geben, auf die eine oder die andere Weise. »Quaerite primum regnum Dei …«12 Sucht zuerst das, was der Verherrlichung Gottes dient und aus Gerechtigkeit den Menschen gegenüber erbeten werden soll, was verbindet, sie nach oben zieht, sie vereint. Und alles andere wird Er uns dazugeben!

Meine Kinder, ich komme zum Ende. Ich habe nichts Eigenes gesagt. Alles ist in der Heiligen Schrift enthalten: Es ist der Geist Jesu Christi, den Er für sein Werk haben wollte.

Frohe Weihnachten! Gott segne euch! Bevor ich jetzt gehe, gebe ich euch den Segen.

Anmerkungen
1

2 Kor 5, 17-18: Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden. Aber das alles kommt von Gott, der uns durch Christus mit sich versöhnt hat.

Verzeichnis der Schriftstellen
Anmerkungen
2

Gal 4, 4-5: Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und dem Gesetz unterstellt, damit er die freikaufe, die unter dem Gesetz stehen, und damit wir die Sohnschaft erlangen.

3

Joh 1, 12: Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben.

4

Neh 1, 6.

5

Lk 18, 1.

6

Mt 6, 7.

7

Mt 6, 5.

Verzeichnis der Schriftstellen
Anmerkungen
8

Vgl. Jer 29, 12.

9

Ps 26, 7.

10

Lk 6, 12.

11

Mt 7, 7.

12

Vgl. Mt 6, 33.

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