Zeichen des inneren Lebens

 Diese Worte richtete der heilige Josemaría am 10. Februar 1963 in der Pfingstkapelle an die Teilnehmer an einem Einkehrtag.


Jeder passt die allgemeinen Sachen seinen Bedürfnissen und konkreten Umständen an. Aus derselben Stoffsorte macht man sehr verschiedene Anzüge: die einen größer und die anderen kleiner, die einen weiter und die anderen enger. Millionen Menschen nehmen dieselbe Medizin ein, aber jeder gebraucht sie nach seinem Bedarf. Wenn diese Besonderheiten oder Umstände mehr oder weniger dauerhaft sind, führen sie dazu, das Leben auf eine spezifische Art und Weise zu betrachten. So kennen wir zum Beispiel alle aus eigener Erfahrung, was man die Psychologie oder die psychologische Prägung des Berufes nennen könnte. Wenn ein Arzt auf der Straße einen Menschen mustert, denkt er vielleicht unwillkürlich: der hat ein Leberleiden; wenn ihn ein Schneider sieht, wird er sagen: er ist schlecht gekleidet; wenn es ein Schuster ist, wird er möglicherweise finden, dass er sehr gute Schuhe trägt …

Seht, meine Kinder, wenn das im Berufsleben, im menschlichen Bereich passiert, so geschieht im geistlichen Bereich das gleiche. Wir haben ein besonderes, ein eigenes Innenleben, das zum Teil nur für uns typisch ist. Für dieses geistliche Leben der Mitglieder des Werkes, das jedem von uns eine besondere Art, auf die Dinge zu schauen, geben soll, ist es charakteristisch, dass wir uns aktiv um die Heiligkeit der anderen kümmern. Wir lieben Gott nicht, wenn wir nur damit beschäftigt sind, an unsere eigene Heiligkeit zu denken. Wir müssen an die anderen denken, an die Heiligkeit unserer Brüder und die Heiligkeit aller Seelen.

Nach meinem Tod könnt ihr das Schweigen brechen, das ich nun schon so lange Zeit hüte, und ihr könnt es laut hinausschreien. Viele, viele Jahre musste ich schweigen. Unter meinen Papieren werdet ihr viele Ermahnungen zur Klugheit finden, zum Schweigen, zum Überwinden der Schwierigkeiten durch Gebet und Abtötung, durch Demut, mit Arbeit und mit Taten – nicht nur mit Worten. Es gab etwas, das mich am Sprechen hinderte, mich schweigen ließ und mit meinen Eingangsworten zu tun hat. Ich besaß – nicht aus eigenem Verdienst, sondern durch die Gnade Gottes, unseres Herrn – die Psychologie dessen, der nie allein ist, weder menschlich noch übernatürlich. Ich war mit Gott und den Menschen verbunden, und ich wünsche mir, dass auch ihr an dieser starken Verbundenheit teilhabt, die fortdauert und die immer fortdauern wird.

Niemals bin ich allein gewesen. Das hat mich angesichts objektiv untragbarer Dinge schweigen lassen. Ich hätte einen Riesenskandal entfesseln können. Es wäre ganz leicht, ganz leicht gewesen … Aber nein, ich habe es vorgezogen, zu schweigen und selber der Skandal zu sein, weil ich an die anderen dachte.

Wir haben keine andere Wahl, als mit diesem – sagen wir – psychologischen Vorurteil zu rechnen: ständig an die anderen zu denken, diese bestimmte, ausschließlich uns eigene Sichtweise zu haben. Ich möchte, dass ihr daran denkt, wenn ihr über alle Regionen verstreut seid. Erschreckt niemals über die Unklugheit der Leute. Wir aber, die wir die Aufgabe haben, über die anderen zu wachen, können uns diesen Luxus der Unklugheit nicht leisten. Im Gegenteil, wir müssen uns den Luxus der Klugheit leisten, der Gelassenheit, der Liebe, die niemanden ausschließt.

Der Herr hat uns im Opus Dei gezeigt, wie das Kreuz, das Er selbst uns auferlegt – oder das Umstände, Gegebenheiten oder Personen uns auferlegen, was Er zulässt –, uns nicht niederdrückt. Es drückt uns nicht nieder, wenn wir das Kreuz Christi lieben, es gelassen tragen, aufrecht, ohne es fallen zu lassen und ohne es hinter uns her zu schleifen. Es erdrückt uns nicht, wenn wir innerliche wie äußerliche Widrigkeiten, gleichgültig welche, umarmen und wissen, dass sich hinter ihnen ein Sinn verbirgt und sie auf diese Weise einen wunderbaren Schatz darstellen. Wenn es wirklich das Kreuz Christi ist, dann drückt dieses Kreuz nicht nieder; denn es ist nicht unser Kreuz. Es ist nicht mehr meines, sondern seines, und Er trägt es mit mir. Auf diese Weise, meine Kinder, gibt es kein Leid, das man nicht rasch überwindet, und niemand wird uns den Frieden und die Freude rauben können.

»Diligam te, Domine, fortitudo mea!«1 Ich liebe Dich, Herr, denn Du bist meine Stärke, »quia tu es, Deus, fortitudo mea«2. Ich ruhe aus in Dir! Ich kann nichts tun, wenn Du mir nicht hilfst, sei es groß oder klein, obwohl es keine kleinen Dinge gibt, wenn ich sie aus Liebe tue. Denn wenn ich meinen guten Willen einsetze, wird der machtvolle Arm Gottes kommen, um mich zu kräftigen, zu beruhigen, zu stützen und diesen Schmerz tragen zu helfen. Dann bedrückt mich diese Last nicht mehr.

Bedenkt es gründlich, meine Kinder. Denkt an die Umstände jedes einzelnen und macht euch klar, dass uns die Dinge mehr nützen, die scheinbar schieflaufen, die uns zuwider sind und uns schwerfallen, als diejenigen, die anscheinend ohne Mühe laufen. Wenn wir dies nicht so sehen, stellt sich Verwirrung und Trostlosigkeit ein. Wenn wir hingegen das, was in geistlicher Hinsicht sehr weise ist, voll erfasst haben und den Willen Gottes unter diesen Umständen annehmen, Jesus Christus lieben und uns als Miterlöser mit Ihm wissen, dann wird uns die Klarheit nicht fehlen, die Kraft, unsere Pflicht zu erfüllen: die Gelassenheit.

Sagt Jesus jetzt mit mir zusammen: Herr, wir wollen nichts anderes als Dir dienen! Wir wollen unsere Pflichten erfüllen und Dich lieben wie Verliebte! Lass uns Deinen festen Schritt an unserer Seite spüren. Sei Du unser einziger Halt. Nichts wird euch den Frieden rauben, meine Kinder. Wenn ihr mit diesem Vertrauen lebt, wird euch nichts die Freude nehmen können und wird niemand eure Gelassenheit ins Wanken bringen. Im Leben gibt es für alles eine Lösung, ausgenommen den Tod; und der Tod ist für uns Leben.

»Wisst ihr nicht, dass die Läufer im Stadion zwar alle laufen, aber nur einer den Siegeskranz gewinnt?«3 Wenn eine Askese in der Kirche diesen sportlichen Charakter hat, dann die Askese unseres Werkes. Der Sportler ist beharrlich. Der gute Sportler verbringt viel Zeit mit dem Training und der Vorbereitung. Beim Hochsprung versucht er es nicht nur einmal, sondern viele Male. Man legt ihm die Latte höher. Vielleicht schafft er es nicht, aber er macht hartnäckig weiter, bis er das Hindernis überwunden hat.

Meine Kinder, so ist das Leben. Wenn ihr beginnt und immer wieder neu beginnt, dann geht es gut. Wenn ihr euch von der Siegesmoral leiten lasst, wenn es Kampf gibt, dann überspringt ihr mit Gottes Hilfe die Hindernisse! Es gibt keine Schwierigkeit, die man nicht überwindet! Jeder Tag wird für uns eine Gelegenheit sein, uns zu erneuern, in der Gewissheit, ans Ziel unseres Weges, das die Liebe ist, zu gelangen.

Es tut weh, Leute zu sehen, die sich den Fuß verstauchen und das nicht mit christlichem, mit sportlichem Geist zu tragen wissen. Sie dulden nicht, dass der Arzt oder der Masseur einschreitet, und sagen, dass sie nicht mehr springen wollen.

»Jeder Wettkämpfer«, nochmals lese ich für euch Worte des heiligen Paulus, »lebt aber völlig enthaltsam; jene tun dies, um einen vergänglichen, wir aber, um einen unvergänglichen Siegeskranz zu gewinnen.«4 Man muss die Mittel einsetzen, die trotz unserer Schwachheit möglich sind. Viele führen ein opfervolles Leben aus rein menschlichen Motiven. Diese armen Geschöpfe bedenken nicht, dass sie Kinder Gottes sind. Sie handeln vielleicht aus Stolz, um sich in Szene zu setzen. »Sie üben in allem Enthaltsamkeit«5. Und du, mein Sohn, der du das Werk zur Mutter hast, der du deine Brüder hast, die meine Söhne sind – was tust du? Mit welchem Verantwortungsbewusstsein reagierst du?

Mehr als einmal habe ich denen, die sich die Knöchel verstauchen oder das Handgelenk verrenken, gesagt, dass sie nicht allein sind. Du hast nicht das Recht zurückzuschauen, mein Sohn, deine Seele zu verlieren oder dich nur der schweren, drohenden Gefahr der Verdammnis auszusetzen. Außerdem hast du nicht das Recht, die Last abzuwerfen, die der Herr dir voll Liebe und Vertrauen auf die Schultern gelegt hat. Du hast nicht das Recht, das Werk und deine Brüder, deine Verantwortung zu ignorieren. Ich will Dich bitten, Jesus, unser Herr, dass wir niemals mehr wegen Schwierigkeiten vom Weg abkommen, uns nie mehr weigern, Dein Kreuz auf uns zu nehmen und es mit Freuden zu tragen.

Seht ihr, wie sich in allem die Psychologie kundtut, von der ich sprach? Seht ihr, wie wir unser Gebet von diesem Blickwinkel aus halten, wie es unseren persönlichen Bedürfnissen, die nicht nur die unseren, sondern auch die aller eurer Geschwister, die des ganzen Werkes sind, angemessen ist? Gebt diese Gedanken an die anderen weiter, indem ihr sie den persönlichen Umständen jedes einzelnen anpasst. Bringt euren Brüdern diese Gedanken nahe, über die ich zu euch so oft gepredigt habe. Wiederholt überall das, was wir in dieser Zeit des Gebetes gemeinsam betrachtet haben.

»Ich laufe, aber nicht wie einer, der aufs Geratewohl läuft, ich kämpfe, aber nicht wie einer, der Luftstreiche ausführt, sondern ich züchtige meinen Leib und bringe ihn in Dienstbarkeit, damit ich nicht, nachdem ich anderen gepredigt habe, selbst verworfen werde.«6 Überlege, ob wir, du und ich, dasselbe sagen können wie der Apostel. Meine Kinder, ich glaube, für das Gebet heute genügt das schon. Man muss treu sein in diesen kleinen, gewöhnlichen Abtötungen jeden Tages. Und außerdem alle passiven Abtötungen annehmen, die der Herr uns schickt; ein persönliches Leben von solcher Qualität führen, dass dieses Verworfen-Werden, von dem der heilige Paulus spricht, unmöglich ist.

Ein Mensch, der kämpft, der beginnt und immer wieder neu beginnt, der sich ein ums andere Mal an das Kreuz Christi klammert, der kommt voran. Aber auch wir müssen immer, selbst wenn wir die kleinsten Pflichten erfüllen, als Motiv die Sorge um die anderen haben, um eure Brüder. Entsprechend unserer Art, auf die Dinge zu schauen, müssen wir ständig daran denken, dass wir nicht allein sind, dass es nicht logisch ist, allein zu sein. Immer an die anderen denken – an alle Seelen.

Anmerkungen
1

Ps 17, 2.

2

Ps 42, 2.

Verzeichnis der Schriftstellen
Anmerkungen
3

1 Kor 9, 24.

4

1 Kor 9, 25.

5

Ebd.

6

1 Kor 9, 27.

Verzeichnis der Schriftstellen
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